Wahlen stellen den grundlegenden Baustein repräsentativer Demokratien dar und sind ein politisches Grundrecht.[1] Durch sie wird das Prinzip der Volkssouveränität, also die Macht des Volkes, sichergestellt.[2] Das allgemeine Wahlrecht, wie man es aus modernen Demokratien kennt, war nicht schon immer eine Selbstverständlichkeit: lange wurden Menschen auf Grund von Einkommen, Vermögen, Bildung und Geschlecht von Wahlen ausgeschlossen.[3]
Heute ist im deutschen Grundgesetz festgelegt, dass die Wahlen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim stattfinden müssen. Allgemein bedeutet dies, dass jede* deutsche Staatsbürger*in, der oder die das 18. Lebensjahr vollendet hat, wählen darf. Dabei werden die Kandidat*innen von den Wähler*innen direkt, also unmittelbar gewählt. Es darf keine Einflussnahme erfolgen und auf die Wähler*innen darf kein Druck ausgeübt werden: sie müssen ihre Wahlentscheidung frei treffen können. Über die jeweilige eigene Wahlentscheidung muss der oder die Wähler*in keine Auskunft erteilen und bei der Wahlhandlung müssen Wahlurnen und -kabinen vorhanden sein, um eine geheime Wahl zu garantieren. Der Grundsatz der Gleichheit stellt sicher, dass jede Stimme gleich viel Wert ist und keine Gewichtung der Stimmen erfolgt. Schließlich unterscheidet man zwischen aktivem und passivem Wahlrecht: Menschen mit aktivem Wahlrecht dürfen wählen, Menschen mit passivem Wahlrecht dürfen gewählt werden.[4]
Im ersten Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsparteien freie und geheime Wahlen in adäquaten Abständen durchzuführen. Auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird das Recht zu Wählen und „[…] an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.“ festgehalten (Allg. Erkl. Menschrecht.). Weltweit bleibt Strafgefangenen das Wahlrecht jedoch nach wie vor in vielen Staaten untersagt. Zu nennen sind hier beispielsweise Argentinien, Brasilien, Bulgarien, Estland, Ungarn, Kirgisistan, die Mongolei, Neuseeland sowie die Türkei und die USA.[5]
Gerade einmal zwei US-amerikanische Bundesstaaten gewähren Menschen im Gefängnis das Wahlrecht;[6] in elf Bundesstaaten besteht der Wahlrechtsausschluss zumindest für einige Personen auch nach der Entlassung.[7] Bei den Präsidentschaftswahlen 2020 konnten aus diesem Grund schätzungsweise 5,17 Millionen Menschen im wahlfähigen Alter nicht wählen. Dabei hatte die Mehrheit der Betroffenen ihre Strafe bereits abgesessen oder war auf Bewährung entlassen.[8]
Das passive Wahlrecht, also die Möglichkeit sich als Kandidat einer Wahl aufstellen zu lassen, wird in den meisten Staaten beschränkt. Wie und in welchem Ausmaß der Ausschluss des passiven Wahlrechts erfolgt, ist dabei verschieden.[9]
Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) setze sich bereits mehrfach auf Grund von Beschwerden durch Gefangene mit dem Wahlrecht von Strafgefangenen auseinander. Beispielhaft sei die Entscheidung in der Rechtssache Hirst v. the United Kingdom zu nennen. Hirst, der zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, wurde das Wahlrecht für die Dauer der Inhaftierung entzogen. Der EMGR entschied in diesem und auch in anderen Fällen, dass ein pauschaler Wahlrechtsausschluss gegen Artikel 3 des ersten Protokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf freie Wahlen) verstößt.[10]
Gefangene sind in einer Art und Weise vom Staat abhängig, wie das nur auf wenige Menschen in unserer Gesellschaft zutrifft.[11] Aus diesem Grund sollten auch sie in der Lage sein ihr Recht auf politische Partizipation zu nutzen, um bei wichtigen Fragen mitbestimmen zu können. Unter Umständen lebt der oder die Gefangene längst wieder als Mitglied der freien Gesellschaft, wenn wichtige politische Entscheidungen durch die gewählten Vertreter*innen getroffen werden.[12] Der pauschale Wahlrechtsausschluss von Gefangenen missachtet nicht nur Grund- und Menschenrechte, sondern steht auch dem Resozialisierungsgedanken entgegen: wenn Gefangene nicht wählen dürfen und ihre Meinung missachtet wird, vermittelt dies einen Ausschluss und trägt nicht dazu bei, dass Gefangene sich als willkommener Teil der Gesellschaft empfinden.[13]
In Deutschland haben Gefangene seit 1957 das Recht zu wählen. Das aktive Wahlrecht kann zwar per Richterspruch bei bestimmten politischen Straftaten entzogen werden, das passiert jedoch sehr selten. Das passive Wahlrecht hingegen verlieren für die Dauer von fünf Jahre all jene, die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurden (§45 Abs.1 StGB).[14]
In deutschen Gefängnissen erfolgt die Stimmabgabe in der Realität weit überwiegend per Briefwahl. Zwar können im Gefängnis Wahlvorstände errichtet werden; in einer Untersuchung des Rechtswissenschaftlers Jan Oelbermann konnten jedoch weder die 16 Landeswahlleiter noch der Bundeswahlleiter bestätigen, dass es jemals einen beweglichen Wahlvorstand gegeben hat. Diesen Umstand bewertet der Jurist „[…] vor dem Hintergrund des §8 BWO, der die Einrichtung beweglicher Wahlvorstände in Justizvollzugsanstalten regelt […]“ (S. 109) als erstaunlich.[15] Wenn sich Gefangene dazu entscheiden zu wählen, müssen die Briefwahlunterlagen auf eigene Kosten beantragt werden.[16] Die Stimmabgabe in einem Wahllokal ist für Gefangene des geschlossenen Vollzugs nicht möglich. Dabei muss der Vollzug, nach dem Angleichungsgrundsatz, so eingerichtet werden, dass die Lebensverhältnisse innerhalb des Gefängnisses möglichst wenig von den Verhältnissen in Freiheit abweichen (§ 3 Abs.1 StVollzG). Dies sollte auch für das Wahlrecht gelten und würde neben der Briefwahl eine Stimmabgabe in einem Wahllokal beinhalten.
Wie hoch die Wahlbeteiligung in deutschen Gefängnissen ist, weiß niemand. Daten hierzu werden nicht erhoben.
Die Mehrheit der Menschen, die in Freiheit leben, haben umfangreichen Zugang zu Informationen rund um die zur Wahl stehenden Parteien und Kandidat*innen. Im Rahmen des Wahlkampfes finden Wahlkampfveranstaltungen statt und die Parteien treten mit Infoständen, Infomaterialien und Wahlplakaten an die Bürger*innen heran. Vor allem über das Internet können problemlos alle Wahlprogramme eingesehen werden und Programme wie der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung helfen bei der Entscheidungsfindung. Auch der Austausch und die Diskussion mit der sozialen Bezugsgruppe sind oft relevant für den Wahlentschluss. Auf den Großteil der genannten Informationsquellen haben gefangene Menschen keinen Zugriff. Sie haben nur in begrenztem Umfang Kontakte nach Außen, in den Justizvollzugsanstalten findet kein Wahlkampf statt und Gefangene haben größtenteils keinen Zugang zum Internet. Wenn sich Gefangene spezifisch mit den Inhalten der einzelnen Parteien beschäftigen möchten, können sie Infomaterialien anfordern.[17] Grundsätzlich regelt zudem das Strafvollzugsgesetz, dass Gefangene bei der Ausübung ihres Wahlrechts unterstützt werden müssen (§ 73 StVollzG). Wie diese Unterstützung im Einzelfall in den jeweiligen Justizvollzugsanstalten erfolgt, ist unklar.
Bereits die Registrierung als wahlberechtigte Person im Wähler*innenverzeichnis kann mit Aufwand verbunden sein. Die Eintragung erfolgt meist passiv auf Grundlage des Melderegisters der jeweiligen Gemeinde (§ 16 BWO). Gefangene, die zum Zeitpunkt der Inhaftierung wohnungslos sind, sind jedoch darauf angewiesen, von der jeweiligen Justizvollzugsanstalt bei der Meldebehörde gemeldet zu werden. Durch die Anstalt gemeldet werden allerdings nur Gefangene, die eine Freiheitsstrafe von über 3 Monaten verbüßen (oder gemeldet sind, aber zu einer Freiheitsstrafe von über 12 Monaten verurteilt wurden) (§ 27 Abs.4 BMG). Wenn die Voraussetzungen zur Meldung durch die Justizvollzugsanstalten nicht gegeben sind, müssen sich wohnungslose Gefangene um einen Antrag bemühen, um ins Wähler*innenverzeichnis aufgenommen zu werden.[*] Ein Problem, dass nicht wenige Gefangene betreffen dürfte: knapp jede* achte Gefangene ist ohne festen Wohnsitz oder es fehlt eine Angabe zur Wohnsituation.[18]
Probleme, die durch die „totale Institution“ Gefängnis im Rahmen des Wahlprozesses auftreten können, hängen vor allem mit der Briefwahl zusammen. Gefangene haben das Risiko des Versendens der Wahlunterlagen selbst zu tragen. Dies trifft auch auf in Freiheit lebende Menschen zu; diese haben jedoch die Möglichkeit sich aus diesem Grund gegen eine Briefwahl zu entscheiden und ein Wahllokal aufzusuchen.[19] Liegt die Inhaftierung des oder der Gefangenen kurz vor dem Wahltag oder es findet eine kurzfristige Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt statt, kann nicht gewährt werden, dass die Wahlunterlagen rechtzeitig bei den Betroffenen ankommen.[20] Zudem kann der Grundsatz der geheimen Wahl nicht unbedingt garantiert werden, da das Beantragen der Briefwahlunterlagen in der Regel nicht ohne Kenntnis der Vollzugsbehörden erfolgt. Sind Gefangene nicht allein im Haftraum untergebracht, stellt sich zudem die Frage, ob sie ihre Stimmzettel unbeobachtet ausfüllen können.[21]
Die Teilnahme an Wahlen aus dem Gefängnis heraus geht mit einigen Barrieren einher. So haben Gefangene nur sehr eingeschränkt Zugang zu parteipolitischen Informationen, können sich nur in begrenztem Umfang mit anderen Menschen über die Wahl austauschen und sind, auch wenn per Gesetz andere Möglichkeiten bestehen, auf die Briefwahl angewiesen. Gleichzeitig stellt nicht selten Wohnungslosigkeit eine weitere Hürde bei der Umsetzung des Wahlrechts dar. Diese Umstände erweisen sich als problematisch: Grundrechtseingriffe sollten sich nur auf die für den Vollzug der Freiheitsstrafe tatsächlich notwendigen Maßnahmen beschränken.
*:
Zur Problematik der Wahlrechtsnutzung wohnungsloser Menschen ausführlicher:
Krennerich, Michael
(2021):
Wahlrecht wohnungsloser Menschen, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
1:
Schiffer, E.
(2019):
Wahlrecht.
In: Ernst Benda, Werner Mailhofer & Hans-Jochen Vogel. Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, De Gruyter,
S. 295-315
.
2:
Thurich, E.
(2011):
pocket politik. Demokratie in Deutschland überarb. Neuaufl. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
3:
Krennerich, M.
(2017):
Das Wahlrecht als Bürger- und Menschenrecht – Standards und Eigenarten. Zeitschrift für Menschenrechte.
4:
Deutscher Bundestag
(2021):
Allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.
Abgerufen am 03.08.2021 von,
https://www.bundestag.de/parlament/bundestagswahl/wahlgrundsaetze-213172.
5:
Krennerich, M.
(2017).
6:
Uggen, C., Larson, R., Shannon, S. & Pulido-Nava, A.
(2020):
Locked Out 2020: Estimates of People Denied Voting Rights Due to a Felony Conviction. Washington, D.C.: The Sentencing Project.
7:
Krennerich, M.
(2017).
;
Uggen, C., Larson, R., Shannon, S. & Pulido-Nava, A.
(2020).
8:
Uggen, C., Larson, R., Shannon, S. & Pulido-Nava, A.
(2020).
9:
Krennerich, M.
(2020):
Freie und faire Wahlen?: Standards, Kurioses, Manipulationen. Frankfurt: Wochenschau Verlag.
10:
European Court of Human Rights
(2014):
Informationsblatt zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Wahlrecht von Strafgefangenen.
11:
Oelbermann, J.
(2011):
Wahlrecht und Strafe. Die Wahl aus dem Justizvollzug und die Aberkennung des Wahlrechts durch das Strafgericht. Baden-Baden: Nomos.
12:
Karsai, K.
(2008):
Das Wahlrecht der Strafgefangenen – rechtsvergleichende und europäische Überlegungen.
In: Thomas Görgen, Klaus Hoffmann-Holland, Hans Schneider & Jürgen Stock. Interdisziplinäre Kriminologie. Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft,
S. 316-332
13:
Karsai, K.
(2008).
14:
Krennerich, M.
(2017).
15:
Oelbermann, J.
(2011).
16:
Wurm, D.
(2012):
Wählen im Strafvollzug. der lichtblick.
17:
Karsai, K.
(2008).
18:
Statistisches Bundesamt
(2020):
Strafvollzug - Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.03.2020.
Fachserie, 10 (4.1), 1–26. Wiesbaden,
19:
Wurm, D.
(2012).
20:
Oelbermann, J.
(2011).
21:
Oelbermann, J.
(2011).