Jede*r weiß, wie man ins Gefängnis kommt: Man begeht eine Straftat und wird deshalb rechtskräftig zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Will man jedoch freiwillig hineinblicken, gestaltet sich der Zugang zum Gefängnis sehr schwierig. Der Justizvollzug als besonders gesicherter Bereich hat verständlicherweise ein Interesse, genau zu wissen, wer wann und weshalb in die Anstalt kommt und welche Bereiche betreten werden. Dies schließt zwar den Zugang für Externe nicht grundsätzlich aus, doch erhalten externe und unabhängige Akteure tatsächlich nur selten und nicht regelmäßig Einblicke in die Realität des Gefängnisses. Daher sind Informationen über die Situation im Strafvollzug häufig lückenhaft, unsystematisch oder für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.
In Gefängnissen werden Menschen gegen ihren Willen festgehalten und sind schweren Eingriffen in ihre Grund- und Menschenrechte ausgesetzt. Rechtsprechung, Forschung und Berichte verschiedener Kontrollinstanzen des Strafvollzugs haben immer wieder gezeigt, dass Rechtsverletzungen punktuell vorkommen und der Freiheitsentzug zahlreiche negative Auswirkungen auf Gefangene und ihre Angehörigen hat. Daraus folgt nicht zwingend, dass es regelmäßig, strukturell oder gar bewusst zu entsprechenden Verletzungen kommt. Doch bei Institutionen mit viel Macht besteht immer ein Risiko des Machtmissbrauchs. Gerade bei Trägern des staatlichen Gewaltmonopols und in Bereichen, in denen die Gefahr von Verletzungen von Grund- und Menschenrechten besonders hoch ist, muss mit der grundsätzlichen Fehleranfälligkeit von Systemen gerechnet werden und ein möglichst hohes Maß an Nachvollziehbarkeit und Transparenz herrschen.
Zwei zentrale sich ergänzende Institutionen, die Transparenz herstellen können, sind erstens unabhängige Beschwerdestellen, die als Monitoringinstanzen Probleme und Konflikte dokumentieren. Diese fehlen im Strafvollzug weitgehend. Zweitens kann wissenschaftliche Forschung die Maßnahmen und Probleme systematisch aufarbeiten, bewerten und Verbesserungsvorschläge abgeben. Wissenschaftliche Forschung existiert zwar im Gefängnis, sie steht jedoch zahlreichen Hürden und Komplikationen gegenüber.
Es gibt verschiedene Vorkehrungen und Einrichtungen, die eine Kontrolle des Strafvollzugs gewährleisten sollen.[1] Dazu gehören
All diese Einrichtungen und Vorkehrungen sind jedoch aus verschiedenen Gründen in ihrer Kontrollfunktion stark eingeschränkt und gewährleisten keine umfassende und überregionale Transparenz im Strafvollzug. Häufig sind Institutionen, wie das Europäische Komitee oder die Nationale Stelle unterbesetzt und unterfinanziert.[2] Andere Akteure wie Richter*innen sind nicht ausreichend unabhängig von der Justizverwaltung. Auch mangelnde Fachkenntnisse, zum Beispiel der Anstaltsbeiräte, können effektive Kontrolle im Strafvollzug verhindern.[3]
Bemühungen etwas an dieser Situation zu verändern sind rar gesät: Nordrhein-Westfalen hat als einziges Bundesland 2009 nach skandinavischem Vorbild die Institution eines Ombudsmanns geschaffen.[4] Dieser soll als zentrale staatliche Beschwerdeinstanz Problemen und Konflikten von Gefangenen und Bediensteten im Strafvollzug nachgehen. Seit 2011 wird dieses Amt von einem „Vollzugsbeauftragten“ fortgeführt. Auch dieser nimmt „Beschwerden, Anregungen, Beobachtungen und Hinweise“ von „allen am Vollzug Beteiligten“ auf und berät zusätzlich das Justizministerium zur konzeptionellen Fortentwicklung des Strafvollzugs.[5]
Das Strafvollzugsarchiv, welches 1977 an der Uni Bremen gegründet wurde und sich seit 2012 in Dortmund befindet, beantwortet Briefe von Gefangenen zu rechtlichen Fragestellungen und bearbeitet sowie dokumentiert damit Konflikte im Strafvollzug als unabhängige Kontrollinstanz.
Jedoch sind ein Vollzugsbeauftragter, ein gemeinnütziger Verein und die bereits erwähnte Nationale Stelle zur Verhütung von Folter nicht ausreichend, um Transparenz und Kontrolle für ca. 180 Gefängnisse, 60.000 Gefangene und 35.000 Bedienstete in 16 Bundesländern zu gewährleisten und die Öffentlichkeit zu informieren.[6]
Wissenschaftliche Forschung ist neben unabhängigen Kontrollinstanzen ein zentraler Baustein, um Transparenz im Strafvollzug zu ermöglichen:
Erstens werden durch Studien besonders komplexe Missstände oder ineffektives Handeln überhaupt erst erkannt, die dann auch politische oder juristische Konsequenzen nach sich ziehen können.
Zweitens kann die Forschung dazu beitragen, dass andere Kontrollorgane effektiver arbeiten können. So helfen Forschungserkenntnisse beispielsweise Richter*innen, die wenige Kenntnisse über Vollzugsabläufe besitzen, bei einem differenzierten Urteil.
Drittens kann Forschung auch dazu führen, dass unterschiedliche Herangehensweisen der Vollzugsbehörden öffentlich werden. Dies kann zur Folge haben, dass effektives und/oder gerechtes Handeln als “best practice” von anderen Verwaltungen aufgegriffen und umgesetzt wird.
Die Herausforderungen, denen sich die Wissenschaft im Strafvollzug gegenübersieht, sind vielfältig und komplex. Da jeder dieser Aspekte einen eigenen Artikel verdient, sollen einige zentrale Punkte abschließend nur umrissen werden:
Bernd Maelicke sieht die “Einheitlichkeit des Rechts- und Sozialstaats Deutschland” grundsätzlich in Frage gestellt. Der versprochene föderale „Wettbewerb der Konzepte“ hat nicht stattgefunden. Ergebnis ist ein löchriger Flickenteppich. Und durch Corona werden die Löcher immer größer.”[7]
Zudem hat die Föderalismusreform, die gegen den Protest der gesamten Fachwelt umgesetzt wurde, laut Heribert Prantl zu einem “Quantitäts- und einen Qualitätsverlust in der öffentlichen Diskussion über den Reformbedarf im Strafvollzug [geführt]. Es fehlen Diskussionsanstöße, weil das nationale Forum fehlt, wenn Bundestag und Bundesrat für dieses Thema nicht mehr zuständig sind. Es fehlen Diskussionsanstöße, wenn die Bundesjustizministerin sich zum Strafvollzug nicht mehr zu Wort meldet - und der Bundespräsident auch nicht. Die Debatte über den Strafvollzug ist leider zerstückelt und damit minimalisiert, sie findet und fand zwar noch in den einzelnen Ländern statt, aber sie findet nicht mehr zusammen. Die Föderalismusreform hat damit etwas Schlimmes angerichtet: Sie hat die Wissenschaft vom Strafvollzug marginalisiert - und sie hat die gesellschaftliche Debatte über den Strafvollzug gekillt.“[8]
Jedes Bundesland hat einen eigenen Kriminologischen Dienst, der selbst Strafvollzugsforschung betreibt und über die Zulassung externer Forschung entscheidet. Auch wenn diese in den letzten Jahren deutlich ausgebaut wurden und die wissenschaftliche Debatte vorangetrieben haben, gewährleisten sie keine ausreichende Transparenz für den Strafvollzug. Ihre Hauptaufgabe besteht in der praxisorientierten anwendungsbezogenen Forschung mit dem Schwerpunkt der Wirksamkeit rückfallreduzierender Maßnahmen und Programme. Als Einrichtungen des Staates sind sie strukturell betrachtet nicht geeignet, den selbigen effektiv zu kontrollieren. Den Anstalten und auch den kriminologischen Diensten fehlen außerdem immer noch vielfach die Ressourcen, um ihre Informationen zu veröffentlichen. Gleichzeitig sind ihnen die Verhältnisse im Vollzug geläufig, sodass die Veröffentlichung dieser Daten aus ihrer Perspektive von einem untergeordneten Interesse sein kann. Dagegen sind externe Forschungseinrichtungen aufgrund ihrer Unabhängigkeit besser in der Lage, kritische Forschungen zu unternehmen und auch Fragestellungen zu entwickeln, die unbequeme Erkenntnisse zu Tage bringen.
Neben strukturellen Problemen an den Universitäten, der Unübersichtlichkeit durch die Föderalismusreform und den Zulassungsbeschränkungen durch die Kriminologischen Dienste sieht sich die wissenschaftliche Forschung auch häufig Vollzugsanstalten gegenüber, die kein Interesse an einer kritischen Selbstreflektion zeigen und Forschenden den Zugang mit dem Argument der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt verwehren.[9]
Der Strafvollzug braucht Offenheit und Bereitschaft zur Selbstreflektion, zum Hinterfragen dessen, was „man schon immer so gemacht“ hat und zum Lernen aus Erfahrung. Wirkungsforschung ist potenziell bedrohlich, da auch herauskommen kann, dass Praktiken und Maßnahmen, die zu einem „passen“ und die man für wirkungsvoll hält, möglicherweise nicht oder nur eingeschränkt wirksam sind. Unter anderem die kriminal- und justizpolitische Bedeutung, die hierarchische Organisation des Strafvollzugs und eine recht einseitig auf Verantwortungszuschreibung ausgelegte Fehlerkultur bedingen mitunter umfassende „Absicherungsstrategien“ aller Bediensteten, die das Eingeständnis von Irrtümern und das „offene“ Nachdenken über Verbesserungsmöglichkeiten erschweren. Selbstverständlich ist das keine Zustandsbeschreibung für den ganzen Strafvollzug, aber insgesamt braucht es mehr Raum für Reflexion und Selbstkritik.[10]
In der Zusammenschau erkennt man, dass es eine komplexe Aufgabe ist, den Strafvollzug transparenter zu machen. Sie bedarf einer umfassenden Finanzierung, der Kooperationsbereitschaft vielzähliger Akteure und einer Institutionalisierung von unterschiedlichen Kontrollverfahren und neuen Routinen. Dabei ist wichtig zu erkennen, dass diese Aufgabe nicht alleine den Menschen überlassen werden kann, die in diesem Bereich arbeiten. Es bedarf vielmehr einer breiten, informierten und an Reformen interessierten Öffentlichkeit, die Druck aufbauen und Entscheidungsträger*innen zum Handeln bewegen kann. Schlussendlich gilt es zu erkennen, dass „der Staat“ uns allen gehört und er uns als Bürger*innen Rechenschaft schuldig ist. Wir haben alle ein geteiltes Interesse daran, in einer gerechten und sicheren Gesellschaft zu leben. Transparenz ist dafür die Voraussetzung und in vielen anderen Gesellschaftsbereichen bereits ein etabliertes Qualitätsmerkmal guter Organisation und demokratischer Verfahren. Es wird Zeit diesen Wert auch ins Gefängnis zu tragen.
1:
Detailliert zu den verschiedenen Rechtsschutz- und Aufsichtsformen im Strafvollzug
Koeppel, T.
(1999):
Kontrolle des Strafvollzugs: Individueller Rechtsschutz und generelle Aufsicht: Ein Rechtsvergleich. Mönchengladbach.
2:
Vgl.
Graebsch, C.
(2014):
Kontrolle des Strafvollzugs durch unabhängiges Monitoring und die Prävention von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.
Forum Strafvollzug 63. Jg. 2014,
S. 390-396 (394)
.
3:
Vgl.
Graebsch, C.
(2017):
§ 103 Beirat.
In: Feest, J., Lesting, W., Lindemann, M. (Hrsg.) Strafvollzugsgesetze Kommentar. 7. Aufl.,
S. Rn 819-836 (821 f.)
.
4: Ein unabhängiger Strafvollzugsbeauftragter wird schon seit Langem empfohlen, vgl.: Feest, J., Lesting, W., Selling, P. (1997): Totale Institution und Rechtsschutz. Wiesbaden; Nummer 93 der Empfehlung des Europarates - Europäische Strafvollzugsgrundsätze - Rec2006(2). Online, https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/sicherheit/smv/dokumentation/empfehlung-europarat-d.pdf.
5: Pressemitteilung des Justizvollzugsbeauftragten. Online. https://www.justizvollzugsbeauftragter.nrw.de/behoerde/presse/alte-Pressemitteilungen/2012-Interview-Betrifft-Justiz/index.php.
6:
Auch die Medienberichterstattung oder die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S) können die Funktion ausüben, ihr Zweck ist jedoch nicht spezifisch darauf ausgelegt.
7:
Maelicke, B.
(2020):
Der Flickenteppich der Resozialisierung.
Zeitschrift Neue Kriminalpolitik 32. Jg. 3/2020,
S. 242-245
.
8: Prantl, H. (2020): Prantls Blick: „Der Justav ist der Vater aller, oder?“. Süddeutsche Zeitung vom 31.5.2020. Online, https://www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-geheimdienste-kontrolle-1.4923272.
9:
Bäumler, E., Schmitz, M.-M.,Neubacher, F.
(2018):
Forschung im Strafvollzug – ein Erfahrungsbericht.
Zeitschrift Neue Kriminalpolitik 2018,
S. 210-223 (217 f.)
;
Schmidt, H.
(2016):
Theorie und Empirie deutschsprachiger Strafvollzugsforschung.
Ein Zwischenruf. KrimJ 2016,
S. 202-227 (208)
.
10:
Suhling, S.:
Wirkungsforschung und wirkungsorientierte Steuerung im Strafvollzug.
In: Maelicke, B., Suhling, S. (Hrsg.): Das Gefängnis auf dem Prüfstand – Zustand und Zukunft des Strafvollzuges. Wiesbaden,
S. 23-47 (38)
.