Abbildung: Suizidraten der Wohnbevölkerung von 2000-2015 und Suizidraten der Gefangenen von 2000-2016 jeweils in Anzahl pro 100.000.[2]
Verschiedene Studien und Erhebungen zeigen, dass die Suizidrate bei Gefangenen weltweit durchschnittlich drei- bis zwölfmal so hoch ist wie die der Allgemeinbevölkerung. Eine Studie des Instituts für forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin zeigt anhand von Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der für den deutschen Justizvollzug zuständigen Behörden sogar bis zu 18 mal höhere Suizidraten in Gefängnissen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch internationale Vergleichstudien.[1] In Deutschland lag die Suizidrate von Gefangenen laut des Kriminologischen Dienstes Niedersachsen (KrimD NI) in den Jahren 2000 bis 2016 bei durchschnittlich 100 pro 100.000 Menschen. Laut der SPACE I, der jährlichen Statistik des Europarates zu Daten über strafende Institutionen, lag die Suizidrate in deutschen Gefängnissen im Jahr 2018 bei 129 pro 100.000 und war damit mehr als 25% höher als der europäische Durchschnitt. Die Suizidrate in der Allgemeinbevölkerung dahingegen lag laut des Statistischen Bundesamtes in den Jahren 2000 bis 2016 bei durchschnittlich 12,4. Für das Jahr 2018 lag sie bei 11,4.[2]
Besonders hoch ist die Suizidgefahr für Untersuchungsgefangene. Die bundesweite Erhebung der Kriminologischen Dienste Niedersachsen und Sachsen stellte für die Jahre 2000 bis 2019 fest, dass sich etwa 50% der Suizidenten in Untersuchungshaft befanden.[3] Mit Blick auf die Zusammensetzung der gesamten Gefangenenpopulation gibt es also eine stark erhöhte Suizidrate unter Untersuchungsgefangenen im Vergleich zu der von Strafgefangenen.[4] Dieser Umstand ist auch international festzustellen.[5]
Die meisten Suizide, insbesondere der Untersuchungsgefangenen, werden in der unmittelbaren Zeit nach Haftbeginn begangen. Die bundesweite Erhebung stellte beispielsweise fest, dass knapp ein Drittel der Suizide im ersten Monat, etwas mehr als die Hälfte in den ersten vier Monaten nach Haftantritt und 6 % am Tag der Inhaftierung oder am darauf folgenden Tag begangen wurden.[6]
Eine große Zahl der Gefangenen bringt bereits Risikofaktoren für einen Suizid mit in die Haft. Vorerfahrungen und Persönlichkeitsstrukturen, die schon vor der Inhaftierung bestehen, können das Suizidrisiko insgesamt erhöhen. Gefangene haben häufig psychische Probleme wie Persönlichkeitsstörungen, Depressionen und Suchtmittelabhängigkeiten. Vor allem bei Untersuchungsgefangenen kann ein solches, bereits bestehendes Risiko häufig festgestellt werden.[7]
Durch die abrupte Lebensveränderung nach der Inhaftierung erleiden viele Betroffene einen sogenannten Inhaftierungsschock. Die Menschen erleben Isolation, Verlust der (Bewegungs-)Freiheit und ihrer Autonomie, Einengung des Lebensraums, Trennung von Familie und Freunden, Einschränkung und/oder Verlust der Sozialkontakte, Unsicherheit über die Zukunft, soziale Degradierung, Angst vor Gewalt sowie die Fremdbestimmung in Bezug auf Entscheidungsprozesse und Alltagsgestaltung. Diese Umstände sind vor allem zu Beginn der Haftzeit und bei Untersuchungsgefangenen eine besonders große psychosoziale Belastung.[8] Die Möglichkeiten, negative Gefühle und Stress zu bewältigen, sind durch die Haftbedingungen stark eingeschränkt. Zusätzlich fehlt den Gefangenen die gewohnte Unterstützung durch ein soziales Netzwerk, das häufig nicht durch Mitgefangene oder Bedienstete ersetzt werden kann.[9]
Zum einen gilt es, die Suizidalität, die Gefangene schon vor der Inhaftierung aufweisen, frühzeitig zu erkennen und einzuschätzen. Dafür werden sogenannte Screeningverfahren vorgeschlagen und teilweise schon angewendet, die direkt zu Haftbeginn sowie im weiteren Haftverlauf durchgeführt werden sollen. Weil psychologisch-psychiatrisches Personal in Justizvollzugsanstalten nicht jederzeit erreichbar ist, sollte es Schulungen und Informationsforen für die Vollzugsbediensteten geben.[10] Zum anderen sollte dem Inhaftierungsschock entgegengewirkt werden. Dafür werden die Stärkung der Kontakte zu Angehörigen, besonders geschulte Aufnahmeabteilungen, Leitfäden für die ersten Tage der Haft, Suizidpräventionsräume und das sogenannte ‚Listener’-Modell vorgeschlagen und ebenfalls teilweise schon angewendet. Bei letzterem wird Neuzugängen ein anderer, in Kommunikation und Krisenintervention geschulter Gefangener als Gesprächspartner an die Seite gestellt.[11]
1:
Konrad, N.
(2002):
Suizid in Haft – europäische Entwicklungen unter Berücksichtigung der Situation in der Schweiz.
Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 153(3),
S. 131-136
;
Matsching, T., Frühwald, S., Frottier, P.
(2006):
Suizide hinter Gittern im internationalen Vergleich.
Psychiatrische Praxis 33,
S. 6-13
.
Zum internationalen Vergleich siehe:
Fazel, S., Ramesh, T., Hawton, K.
(2017):
Suicide in prisons – an international study of prevalence and contributory factors.
The Lancet Psychiatry 4,
S. 946-952
.
2:
Aebi, M. F., Tiago, M. M.
(2018):
Council of Europe Annual Penal Statistcs - SPACE I – 2018. Online.
http://wp.unil.ch/space/files/2019/04/FinalReportSPACEI2018_190402.pdf;
Deutscher Bundestag
(2018):
Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 19/2872 – Todesfälle in Haft, Polizeigewahrsam und Sicherungsverwahrung.
S. 4 f.
; In Hinblick auf die Vergleichbarkeit der Suizidraten ist allerdings zu beachten, dass die Dunkelziffer außerhalb des Justizvollzuges viel höher ist, weil Suizide häufig nicht als solche erkannt werden. Auf Todesfälle in Gefängnissen folgt hingegen eine sorgfältige Erforschung der Todesursache durch die Staatsanwaltschaft sowie eine inhaltlichen Prüfung des Falls durch die Aufsichtsbehörden.
Vgl:
Bennefeld-Kersten, K.
(2009):
Ausgeschieden durch Suizid – Selbsttötungen im Gefängnis: Zahlen, Fakten, Interpretationen.
Lengerich.,
S. 80, 87 f.
3:
Bennefeld-Kersten
(2012):
Suizide von Gefangenen in Deutschland 2000-2010.
Kriminologischer Dienst im Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzuges. Celle,
S. 24
.
4:
Vgl.
Deutscher Bundestag
(2018):
S. 11, 15
.
5:
Matsching, T., Frühwald, S., Frottier, P.
(2006):
S. 6-13
.
6:
Bennefeld-Kersten
(2012):
S. 14, 23, 26
;
Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzuges (Kriminologischer Dienst): Anzahl der Selbstmorde von Gefangenen im Gefängnis in Deutschland von 2000 bis 2004 nach Länge des bereits verbrachten Aufenthalts. Online..
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/70855/umfrage/selbstmord-in-u-haft/.
7:
Bennefeld-Kersten, K.
(2009):
S. 90 f.
;
Konrad, N.
(2002):
S. 132
;
Konrad, N., Opitz-Welke, A.
(2015):
Psychiatrische Probleme im Justizvollzug.
In: Venzlaff, U., Dreßing, H., Habermeyer, E., Bork, S. (Hrsg.): Psychiatrische Begutachtung – Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen. 6. Aufl. Elsevier,
S. 351-362
;
Liebling, A.
(1992):
Suicides in prison.
London,
S. 34 ff.
8:
Bennefeld-Kersten, K.
(2009):
S. 119 f., 198
;
Konrad, N., Opitz-Welke, A.
(2015):
S. 356 f.
;
Liebling, A.
(1992):
S. 49-55
.
9:
Bennefeld-Kersten, K.
(2009):
S. 118 f., 197 f.
;
Liebling, A.
(1995):
Vulnerability and prison suicide.
The British Journal of Criminology 35(2),
S. 173-187
.
10:
Bundesarbeitsgruppe „Suizidprävention im Justizvollzug“, Landesarbeitsgruppe NDS
(2009):
Suizidprävention – Empfehlungen für den Justizvollzug – Heft II – Umgang mit Suizidalität.
Herausgegeben vom Kriminologischen Dienst im Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzugs,
S. 45 ff.
;
Meischner-Al-Mousawi, M.
(2020):
Suizidprävention im sächsischen Justizvollzug.
Forum Strafvollzug 4/20,
S. 259-262
;
World Health Organisation
(2007):
Suizidprävention – ein Leitfaden für Mitarbeiter des Justizvollzugsdienstes.
Geneva,
S. 10 ff.
11:
Bundesarbeitsgruppe „Suizidprävention im Justizvollzug“, Landesarbeitsgruppe NDS
(2009):
S. 46, 52 ff., 55 ff.
;
Bundes- und Landesarbeitsgruppe „Suizidprävention im Justizvollzug“, Rademacher, K.
(2009):
Suizidprävention – Empfehlungen für den Justizvollzug – Heft I – Die Aufnahme von Gefangenen.
Herausgegeben vom Kriminologischen Dienst im Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzugs,
S. 4-7
;
Meischner-Al-Mousawi, M.
(2002):
S. 259-262
.