Fakt 10
Resozialisierung
Im Gefängnis werden die Insassen auf ein Leben in Freiheit ohne Straftaten vorbereitet. Soweit die Theorie.

Vom Ziel und der Ausgestaltung der Freiheitsstrafe

Das Bundesverfassungsgericht erhob in dem berühmten „Lebach-Urteil“ von 1973 die Resozialisierung zum zentralen Ziel des Freiheitsentzugs. Es wurde von der Menschenwürde, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet:

[…] nach allgemeiner Auffassung wird die Resozialisierung oder Sozialisation als das herausragende Ziel namentlich des Vollzuges von Freiheitsstrafen angesehen. Verfassungsrechtlich entspricht diese Forderung dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist.[2]

Seit 1977 ist auch im § 2 des Strafvollzugsgesetzes festgelegt, dass das alleinige Vollzugsziel darin liegt, den Gefangenen zu befähigen, künftig ein Leben in Freiheit ohne Straftaten in sozialer Verantwortung zu führen – eine Formel, die seither neben vielen anderen Definitionsversuchen der Resozialisierung verwendet wird.[3] Im Strafvollzugsgesetz wird der Schutz der Allgemeinheit als ergänzende Aufgabe des Vollzugs genannt. Als die Bundesländer im Nachlauf der Föderalismusreform von 2006 sukzessive eigene Strafvollzugsgesetze erlassen mussten, wurde diese Gelegenheit von einigen Akteuren dazu genutzt, die Resozialisierung als alleiniges Vollzugsziel zu relativieren:

Das StVollzG verspricht darüber hinaus Schutz vor Straftaten nach der Entlassung durch resozialisierende Behandlung. Diese Form der Spezialprävention soll nach § 2 Satz 1 StVollzG das alleinige Vollzugsziel sein. Nur in zweiter Linie soll der Vollzug der Freiheitsstrafe auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dienen. Was Letzteres bedeuten soll war und ist umstritten. Manche meinen, dass dieser zweite Satz eigentlich überflüssig, weil im ersten schon enthalten ist. Andere meinen dass der zweite Satz inhaltlich über den ersten hinaus geht zum eigentlichen Vollzugsziel aufgewertet werden sollte. Diese gesetzliche Aufwertung der Sicherheitsaufgabe ist seit der Föderalismusreform im Gange. Sie hat wesentlich symbolisch-propagandistische Funktionen, soll aber in vielen Bundesländern auch eine Praxis rechtfertigen, welche die Alleinherrschaft des Resozialisierungsziels noch nie akzeptiert hatte.[4]

In den meisten Landesgesetzen steht die Resozialisierung jedoch weiter als das Ziel des Strafvollzugs im Vordergrund.[5] Um sie zu erreichen, sollen soziale Kompetenzen vermittelt und Lernfähigkeit sowie Lernbereitschaft gestärkt werden. Die Maßnahmen während des Freiheitsentzugs sollen dazu befähigen, sich in einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, Chancen wahrzunehmen und gegen die Risiken in der Welt jenseits der Mauern gewappnet zu sein.[6] Im § 3 StVollzG des Bundes sowie in allen Landesgesetzen finden sich drei Vollzugsgrundsätze, die beschreiben, wie Gefängnisse gestaltet sein müssen, damit Resozialisierung gelingen kann:

  1. Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden.
  2. Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken.
  3. Der Vollzug ist darauf auszurichten, daß er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.[7]

Sind Angleichung, Gegensteuerung und Wiedereingliederung während dem Freiheitsentzug jedoch in einem Maße möglich, das Resozialisierung gelingen kann?

Gefängnis als lebensferne Realität

Das Leben im Gefängnis unterscheidet sich fast vollständig von der gesellschaftlichen Realität jenseits der Mauern, in welche die Gefangenen nach ihrer Strafe entlassen und wieder eingegliedert werden sollen. Wird ein Gefangener heutzutage nach einer langen Haftstrafe entlassen, muss er zahlreiche bürokratische Aufgaben des Alltags mit digitalen Medien bewältigen, die er vor Haftantritt nicht kannte und die im Gefängnis nicht zur Verfügung standen. Diese Tatsache allein entrückt den Mikrokosmos Gefängnis dem Leben in Freiheit völlig, da digitale Medien und das Internet jenseits der Mauern allgegenwärtig sind. Die daraus resultierenden Probleme können die Organisation des eigenen Lebens nach der Haft massiv behindern.[8] Aus der Perspektive der Gefängnisleitung besteht bei vielen Themen ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der Resozialisierung und Erwägungen der Sicherheit und Ordnung im Vollzugsbetrieb. Mit dieser Begründung werden Gefangenen verschiedene Ressourcen verwehrt, die einer Resozialisierung förderlich sein könnten.

Der Gefängnisalltag unterliegt außerdem einer totalen Regulierung. Das Leben der Gefangenen ist in erster Linie fremdbestimmt. Die Wahlmöglichkeiten beschränken sich auf das Fernsehprogramm oder die Wahl einer Beschäftigung in der Zeit des Aufschlusses der Zellen. Neben dem umfassenden Autonomieverlust ist es während des Freiheitsentzugs auch kaum möglich soziale Verantwortung etwa für die eigenen Kinder oder die pflegebedürftigen Eltern zu erlernen oder weiterhin zu übernehmen. Doch sind solche Verhaltensweisen und Lebenseinstellungen nicht Anzeichen einer wirklichen Resozialisierung?[9]

Sogar De-Sozialisierung?[10]

Die Gefängnisstrafe entfaltet für viele Betroffene eine gegenteilige Wirkung zu dem offiziell deklarierten Ziel des Freiheitsentzugs. Ein großer Teil der Gefangenen im geschlossenen Vollzug verliert durch die Inhaftierung einen bestehenden Arbeitsplatz, weil ihnen Lockerungen verwehrt werden. Im offenen Vollzug können Gefangene tagsüber die Justizvollzugsanstalt verlassen und so bspw. einer Arbeit nachgehen. Diese Form des Freiheitsentzugs wird bundesweit allerdings nur etwa 15 % der Gefangenen und in der Regel frühestens nach sechs Monaten gewährt.[11] Auch diejenigen, die kurze Strafen von wenigen Wochen oder Monaten absitzen, verlieren häufig ihren Arbeitsplatz und damit einen wichtigen Bezugspunkt zum gesellschaftlichen Leben. Der Freiheitsentzug bewirkt bei vielen Menschen eine Entfremdung von der Gesellschaft. Entlassene leiden häufig unter geschwächten sozialen Kontakten und werden etwa bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche ständig mit dem Stigma des ‚Ex-Knackis‘ konfrontiert. In verschiedenen Studien wurde festgestellt, dass etwa die Hälfte der Entlassenen Schulden von 5.000 bis 40.000 € gegenüberstehen, was einer erfolgreichen Abkehr von Kriminalität nicht hilft.[12]

Kritik ohne Alternative?

Wie eingangs erwähnt, ist das Resozialisierungsparadigma vom Bundesverfassungsgericht zum ‚herausragenden Ziel‘ der staatlich verordneten Freiheitsstrafe erklärt worden. Doch was bedeutet es, wenn man zu dem Ergebnis gelangt, dass das Ziel durch die Institution Gefängnis nicht erreicht werden kann?

Die Erkenntnis, dass ein Gefängnisaufenthalt außerhalb der Sozialtherapie kaum dazu führt, die Rückfallquoten zu verringern, also nicht imstande ist, die Insassen zu resozialisieren, wurde bereits zum Zeitpunkt der Strafvollzugsgesetzgebung [des Bundes] formuliert. […] Das Vollzugsziel der Resozialisierung bestimmt aber - trotz allem - bis heute den Zweck der Freiheitsstrafe, auch wenn es wie noch Anfang des 21. Jahrhunderts als „voluntaristische Bestätigung einer kontrafaktischen Norm“ beklagt wird. Da die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip als politische Bezugsgrößen des Resozialisierungsparadigmas noch immer Verfassungsrang haben, bleibt es auch weiterhin zementiert. Ohne das Resozialisierungsparadigma als regulative Leitidee wäre die staatlich verordnete Freiheitsstrafe verfassungswidrig. Auch deshalb hat der Staat sein Ziel der Resozialisierung nicht aufgegeben. Bemerkenswert ist es dennoch, dass es bis heute keine nennenswerten Alternativen zur Freiheitsstrafe gibt, zumindest nicht in der Bundesrepublik Deutschland.[13]

Es gibt unterschiedliche Wege mit dieser Situation umzugehen. Für einen Großteil der Gesellschaft lässt sich wohl festhalten, dass relativ erfolgreich weggeschaut und so getan wird, als gäbe es keinen Widerspruch und kein Problem im Gefängnisbereich.
Einige Kräfte versuchen die Gewichtung des Vollzugsziels dahingehend zu verändern, dass Fragen der Sicherheit oder andere Gründe für den Freiheitsentzug stärker betont werden: nicht Resozialisierung, sondern wegsperren und vergelten.
Doch es gibt auch Versuche neue Bildungs- und Beratungsangebote innerhalb des Gefängnisses zu schaffen oder bestehende auszubauen.[14] Vielfältige Reformanstrengungen werden angestellt, um das verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel in Zukunft doch noch irgendwie zu erreichen. Dazu sollen vorhandene Organisationen, Akteure und Systeme in diesem Feld stärker vernetzt und Kooperations- und Kommunikationsprozesse optimiert werden; man könnte sagen Resozialisierung nicht durch, sondern trotz des Gefängnisses.[15]
Viele dieser Bestrebungen zielen darauf, die betroffenen Menschen in der Übergangszeit kurz vor und nach der Entlassung sehr viel stärker in ihrem Weg zu unterstützen.[16] Ein naheliegender Weg mit dem Problem umzugehen, dass Gefängnisse häufig nicht effektiv resozialisieren, ist es auch, weniger Menschen zu inhaftieren und Freiheitsstrafen im geschlossenen Vollzug zu vermeiden; gemäß der Formel: „Viele Gefangene bedeuten viele Rückfälle, weniger Gefangene weniger Rückfälle.“[17] Alternativen wie der offene Vollzug oder ambulante Maßnahmen hätten ohnehin in vielen Fällen höhere Erfolgsaussichten kriminelle Karrieren zu beenden und eine soziale Integration zu ermöglichen. Nicht zuletzt verweist die Idee der Resozialisierung mit ihrem Bezug auf ‚das Soziale‘ schon immer implizit darauf, dass die Verantwortung für ihr Gelingen nicht nur beim Straftäter liegt; denn zu „Gesellschaft“ gehören immer mindestens zwei.

Quellen

1: Beck OK Strafvollzug Bund/Gerhold 18. Edition 1.8.2020, StVollzG § 2 Rn. 7. ; BVerfG E 35, 202.

2: BVerfG Lesbach Urteil vom 05.06.1973 - 1 BvR 536/72, openJur 2011, 118213. https://openjur.de/u/177284.html

3: Vgl. Heinz Cornel, et al. (Hrsg.) Resozialisierung. Handbuch, 4. Auflage, 2018.

4: Johannes Feest In dubio pro securitate?. in: In: Feest, J. (Hrsg.): Definitionsmacht, Renitenz und Abolitionismus: Texte rund um das Strafvollzugsarchiv, S. 77-87, hier S. 82 .

5: Beck OK Strafvollzug Bund/Gerhold 18. Edition 1.8.2020, StVollzG § 2 Rn. 10.

6: Beck OK Strafvollzug Bund/Gerhold 18. Edition 1.8.2020, StVollzG § 2 Rn. 5 f.. ; BVerfG E 33, 1, 7 ff.. ; Bundestag Drucksache 7/918, 45.

7: Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz - StVollzG) § 3 Gestaltung des Vollzuges. https://www.gesetze-im-internet.de/stvollzg/__3.html

8: Bode, L. (2017): Anspruch auf Internet im Gefängnis? Zugleich eine Besprechung von EGMR, Urt. v. 17.1.2017 - 21575/08. Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik. 6/2017, S. 348-353 (352) ; Bode, L. (2018): Mehr Internet wagen! - Plädoyer für eine Internetnutzung durch Strafgefangene. BAG-S Informationsdienst 26. Jg. Heft 1/2018, Online, S. 4-6 https://www.bag-s.de/fileadmin/user_upload/PDF/Infodienst/Infodienst_1-2018_fuer_Homepage.pdf; Galli, T. (2020): Weggesperrt - Warum Gefängnisse niemandem nützen. Hamburg. S. 62 f. ; Radetzki, Y. (2018): Soziale Sicherheit im Alltag des deutschen Strafvollzuges - Ein Auslaufmodell?. In: Maelicke, B., Suhling, S. (Hrsg.): Das Gefängnis auf dem Prüfstand - Zustand und Zukunft des Strafvollzugs. Wiesbaden, S. 219 .

9: Galli, T. (2020): S. 64 f. ; Roggentin, K. (2018): Das Gefängnis ist unverzichtbar! Wirklich?. BAG-S Informationsdienst Straffälligenhilfe 26. Jg. Heft 1/2018, S. 20-31 (24) . Online. https://www.bag-s.de/fileadmin/user_upload/PDF/Infodienst/Infodienst_1-2018_fuer_Homepage.pdf

10: Feest, J. (2020): Freiheitsstrafe als staatlich verordnete De-Sozialisierung. In: Feest, J. (Hrsg.): Definitionsmacht, Renitenz und Abolitionismus: Texte rund um das Strafvollzugsarchiv. Wiesbaden (Ursprünglich erschienen in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.): Wider die lebenslange Freiheitsstrafe. Sensbachtal. S. 19-28),

11: Galli, T. (2020): S. 55, 58, 68 f. ; Anteil an Gefangenen, die im offenen Vollzug untergebracht sind: Statistisches Bundesamt (2020). Fachserie 10 Reihe 4.1. - Rechtspflege - Strafvollzug - Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3. - 2019, S. 13 .

12: Cornel, H. (2016): Resozialisierungsziel versus Rückfallrisiko Überschuldung. BAG-S Informationsdienst Straffälligenhilfe 24. Jg. Heft 1/201, S. 28-33 . Online https://www.bag-s.de/fileadmin/user_upload/PDF/Infodienst/Infodienst_1_2016_fuer_Homepage.pdf; Laubenthal, K. (2017): chuldnerberatung im Justizvollzug. BAG-S Informationsdienst Straffälligenhilfe. 15. Jg. Heft 2/2017, S. 26-30 . Online https://www.bag-s.de/fileadmin/user_upload/PDF/Infodienst/Infodienst_2-2017_fuer_Homepage.pdf

13: Ramsbrock, A. „Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch – eine bundesdeutsche Geschichte, 2020. S. 307 .

14: Dünkel, F., Drenkhahn, K. (2001): Behandlung im Strafvollzug: von „nothing works“ zu „something works“. In: Bereswill, M., Greve, W. (Hrsg.): Forschungsthema Strafvollzug. Baden-Baden, S. 387-417 .

15: Maelicke, B. und Wein C. (2016): Komplexleistung Resozialisierung. Im Verbund zum Erfolg. Baden-Baden: Nomos.

16: Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe, Übergangsmanagement. https://www.bag-s.de/themen/uebergangsmanagement; Berger, T. M., Maelicke, B. (2020): Innovationen in der sozialen Strafrechtspflege. in: Maelicke, B., Berger, T. M., Kilian-Georgus, J. (Hrsg.): Innovationen in der sozialen Strafrechtspflege, S. 23, 28 f.

17: Anna Fischhaber „Gefängnis ist keine Lösung“, 5. Juni 2015. https://www.sueddeutsche.de/leben/resozialisierung-gefaengnis-ist-keine-loesung-1.2505479-0

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