Fakt 12
Einsamkeit
“You come in prison on your own and you leave on your own” [1]

Wer von Einsamkeit berichtet hat eine erhöhte Sterbewahrscheinlichkeit von 26%[2]

Was ist Einsamkeit?

Im Laufe eines Lebens fühlt sich jeder Mensch hin und wieder einsam. In einer repräsentativen Untersuchung unter deutschen Erwachsenen gab jeder Zehnte an, ein gewisses Maß an Einsamkeit zu empfinden.[3] Auch in Großbritannien ist Einsamkeit ein scheinbar immer größer werdendes Problem, welches sogar zu der Einrichtung eines „Einsamkeitsministeriums“ geführt hat.[4]
Soziale Interaktionen und die Beziehung zu anderen Menschen gelten als menschliche Grundbedürfnisse.[5] Wir alle haben einen ausgeprägten Drang zumindest ein Mindestmaß an dauerhaften, bedeutsamen und positiven zwischenmenschlichen Beziehungen aufzubauen und zu pflegen.[6] Und das nicht ohne Grund: in der Evolutionsgeschichte war der Mensch stark auf andere angewiesen, um seine Überlebenschancen zu steigern.[7]
Wer weniger soziale Beziehungen hat als er sich wünscht oder mit der Qualität der bestehenden Beziehungen nicht zufrieden ist, empfindet eine Reihe von schmerzhaften Gefühlen, die sich unter dem Begriff der Einsamkeit zusammenfassen lassen.[8] Das Gefühl der Einsamkeit ist im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhaft: Untersuchungen konnten zeigen, dass bei Ablehnung bzw. Ausschluss durch andere Menschen die gleichen Hirnareale aktiv werden wie bei körperlichem Schmerz.[9]
Die Unterscheidung zwischen sozialer Isolation und Einsamkeit ist wichtig: Soziale Isolation lässt sich objektiv messen, während Einsamkeit das subjektive Erleben jedes Einzelnen umfasst.[10] Nicht jeder, der sozial isoliert ist, ist einsam. Gleichzeitig kann man Einsamkeit empfinden, obwohl man Beziehungen pflegt und von Menschen umgeben ist.

Einsamkeit verändert die Wahrnehmung und das Denken

Einsame Menschen handeln und denken anders als Menschen, die nicht einsam sind. Häufig gehen sie sozialen Begegnungen mit mehr Misstrauen entgegen, empfinden andere Menschen eher als bedrohlich, haben ein geringeres Selbstwertgefühl, erwarten Ablehnung durch ihre Mitmenschen und achten vermehrt auf negative soziale Informationen.[11] Die veränderte Wahrnehmung hat Auswirkungen auf das Verhalten: Betroffene ziehen sich zurück und erleben mehr negative soziale Interaktionen, was ihre Annahmen gegenüber zwischenmenschlichen Kontakten sowie ein geringes Selbstwertgefühl bestärkt.[12] Hierdurch entsteht ein Kreislauf, der den sozialen Rückzug oftmals vorantreibt.

Einsamkeit ist ansteckend

Eine Gruppe Forschender analysierte Netzwerkdaten aus der populationsbasierten Framingham Heart Study* und untersuchte die Wege, wie sich Einsamkeit in sozialen Netzwerken ausbreitet. Es zeigte sich, dass nicht einsame Menschen, die sich in der Nähe einsamer Personen aufhalten, mit der Zeit einsamer werden. Einsamkeit breitet sich dabei nicht nur von Person zu Person aus, sondern verringert auch die Bindungen der Menschen untereinander. Dies hat zur Folge, dass Einsamkeit in Gruppen auftritt und am Rande der sozialen Netzwerke überproportional häufig vertreten ist. Betroffene dort haben weniger soziale Kontakte, was sie einsam macht und gleichzeitig dazu führt, dass sie die wenigen Beziehungen, die sie haben, abbrechen.[13]

Das Gefängnis – ein einsamer Ort?

Mit dem Eintritt in ein Gefängnis findet eine Isolierung von der Gesellschaft und damit auch von Angehörigen, Freund*innen und Familie statt.[14] Dies kann zu Einsamkeit und Kontaktabbrüchen führen.[15] Gerade der Kontakt zu Familie und Freund*innen hat allerdings einen besonders hohen Stellenwert für Gefangene. In mehreren Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass vor allem die Trennung von Angehörigen eine massive Belastung für die Gefangenen darstellt.[16] Gefangene waren ängstlicher, gestresster und depressiver, wenn sie weniger Besuche als ihre Mitgefangenen erhielten[17] und der Kontakt zu Familienmitgliedern wurde von Gefangenen als wichtige Ressource für ihre psychische Gesundheit beschrieben.[18]
Dabei kommen Einsamkeit und Isolation im Gefängnis relevante Funktionen zu. Foucault argumentiert, dass Einsamkeit die wichtigste Voraussetzung für eine totale Unterwerfung ist und die Isolierung der Gefangenen garantiert, dass Macht über sie ausgeübt werden kann, die von keinen anderen Einflüssen untergraben wird. Gleichzeitig spielt Isolierung auch im Hinblick auf den Kontakt der Gefangenen untereinander eine wichtige Rolle. Um subkulturelle Verhaltensweisen zu vermeiden, sollen nur wenig Kontakt und Austauschmöglichkeiten unter den Gefangenen bestehen.[19]
Einsamkeitsgefühle können durch verschiedene Aspekte des Gefängnisses hervorgerufen werden, wie z.B. der Trennung von Angehörigen, Zeit allein im Haftraum, Beziehungsproblemen mit Mitgefangenen oder Bediensteten, Gefühle der Unterdrückung und des Ausgeschlossenseins oder dem Gefühl, Teil eines Zwangskollektivs zu sein.[20]
Eine Untersuchung von Gefangenen in England & Wales sowie Norwegen zeigte, dass es je nach Art der Institution Unterschiede im Ausmaß der empfundenen Einsamkeit gibt. So wurde in geschlossenen Anstalten mehr Einsamkeit berichtet als in offenen und Personen in Untersuchungshaft waren stärker von Einsamkeit betroffen als Strafgefangene. Letzteres lässt sich vor allem dadurch erklären, dass Menschen in Untersuchungshaft weniger über das System wissen, mit dem sie konfrontiert sind und mehr Unsicherheiten ausgesetzt sind.[21] Grundsätzlich darf nicht vergessen werden, dass das Gefängnis für manche auch eine Möglichkeit ist, Kontakte zu haben und somit ein Gegenmittel für die Einsamkeit, die sie in der Gesellschaft erfahren haben. Trotz der vielen Menschen, die im Gefängnis auf begrenzten Raum leben, ist diese Einrichtung jedoch für viele ein Synonym für Einsamkeit.[22]

Welche Arten von Einsamkeit gibt es?

Forschende der Universität Cambridge haben unterschiedliche Formen von Einsamkeit im Gefängnis untersucht. Hierfür werteten sie Interviewdaten von männlichen und weiblichen Gefangenen aus England & Wales sowie Norwegen aus.
Eine der am eindringlichsten beschriebenen Formen der Einsamkeit war die körperliche Einsamkeit. Der Eintritt ins Gefängnis bedeutete für die Gefangenen eine besondere Form der Einsamkeit, da sie oft in einem kleinen, kahlen Raum untergebracht waren.

„Nobody really has any time to spend with you. They just slam the door shut. Then you are left alone […]. That can be a bit scary.” (Schliehe, 2021, S.7)[23]

Vor allem im Rahmen von Isolationshaft trat eine extreme Form der Einsamkeit auf. Die Folgen des physischen Alleinseins waren das Hören von Stimmen, Angst vor dem Unbekannten und der Wunsch, sich selbst zu verletzen.

Die Unterbringung in einem Gefängnis bedeutet sowohl Entbehrung als auch Reizüberflutung. In Gefängnissen befinden sich viele Menschen auf begrenztem Raum und die Gefangenen haben wenig Kontrolle darüber, mit wem sie diesen Raum teilen, wie sie von anderen behandelt werden, wie ihre Umgebung aussieht und wie sie ihren Tagesablauf gestalten. Reizen wie Lärm und Gerüchen kann nur bedingt aus dem Weg gegangen werden.[24] In dieser Hinsicht kann Alleinsein eine Erleichterung darstellen. Auch in der Untersuchung von Schliehe und Kolleg*innen beschrieben Gefangene Vorteile des Alleinseins. Diese bezogen sich dann vor allem auf Themen wie Privatsphäre und Kontrolle.
Präsent war allerdings vor allem die Beschreibung des Gefühls allein in der Menge zu sein.

„I literally can say that I’ve never felt so alone in my life, like there might be […] 1000 people surrounding me and you still feel so alone.”[25]

Viele Gefangene erklärten, dass sie keine bedeutungsvolle Beziehung zu ihren Mitgefangenen pflegten. Die Einsamkeit der Gefangenen resultiert somit sowohl aus der Abwesenheit von Menschen, die sie lieben und schätzen, als auch aus der Anwesenheit von Menschen, die sie kaum kennen.
Für viele Gefangene war das Gefühl vergessen zu werden, unsichtbar und zurückgelassen zu sein sowie nicht gesehen oder gehört zu werden das schlimmste, was sie sich vorstellen konnten. Diese Gefühle stellen ein wesentliches Merkmal des Gefängnislebens dar.

Auch nach ihrer Entlassung berichteten einige der Befragten, dass sie weiterhin eine Form der Einsamkeit empfanden. Diese ergab sich aus der Distanz zur gesellschaftlichen Normalität, die sich durch den Gefängnisaufenthalt entwickelt hatte. In England & Wales wurde die beziehungsbedingte Einsamkeit häufig durch die Folgen von Benachteiligung und Armut verschärft. Die Entlassung aus dem Gefängnis in Obdach- oder Arbeitslosigkeit, wenig oder keine staatliche Unterstützung und ein fehlendes soziales Netzwerk führen dazu, dass sich ehemalige Gefangene verlassen und zurückgelassen und damit einsam fühlten.[26]

Folgen von Einsamkeit

Die (empfundene) soziale Isolation ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert als ein wichtiger Risikofaktor für Morbidität und Mortalität beim Menschen anerkannt.[27] Das Gefühl nicht ausreichend mit anderen Menschen verbunden zu sein ist mit negativen Folgen für die mentale und physische Gesundheit und einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert.[28] Die Daten einer Übersichtsarbeit mit insgesamt über 3 Millionen Teilnehmenden ergaben, dass berichtete Einsamkeit mit einer erhöhten Sterbewahrscheinlichkeit von 26% einherging. Anders formuliert: Wer sich einsam fühlt stirbt (in einem bestimmten Zeitraum) mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als diejenigen, die sich gut in ein soziales Netzwerk eingebettet fühlen.[29] Das mit sozialer Isolation und Einsamkeit verbundene Risiko für eine erhöhte Sterblichkeit ist vergleichbar mit bekannten Risikofaktoren wie z.B. Fettleibigkeit, Bewegungsmangel oder Drogenmissbrauch.[30] In diversen Studien konnten zudem Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und verschiedenen Erkrankungen gefunden werden. Hierzu zählen zum Beispiel:

Dies gilt auch speziell für das Gefängnis: Die Ergebnisse einer australischen Untersuchung deuten darauf hin, dass Gefangene, die einsamer waren, ein höheres Maß an depressiven Symptomen, Hoffnungslosigkeit und Anzeichen von suizidalem Verhalten aufwiesen.[37]

Was hilft gegen Einsamkeit?

Grundsätzlich gilt: Einsamkeit ist ein völlig normales Gefühl, das jeder kennt. Wichtig ist es, dieses Gefühl zu akzeptieren und an der Ursache der Einsamkeit anzusetzen.
Auf den ersten Blick scheint das beste Mittel gegen Einsamkeit der regelmäßige und bedeutungsvolle Kontakt zu anderen Menschen zu sein. Mit anderen zusammen zu sein bedeutet jedoch nicht, dass man sich automatisch auch mit diesen verbunden fühlt. Aus diesem Grund ist es wichtig vor allem an den negativen Gedanken und Vorannahmen einsamer Menschen anzusetzen. Es hat sich gezeigt, dass Maßnahmen, die auf ungeeignete soziale Kognitionen abzielen, erfolgreicher bei der Verringerung der gefühlten Einsamkeit sind als Maßnahmen, die darauf abzielen, die Zahl der sozialen Kontakte zu erhöhen.[38] Interventionen, die mit Elementen kognitiver Verhaltenstherapie arbeiten, können Einsamkeit verringern[39] und dazu beitragen, dass sich die Wahrnehmung sozialer Begegnungen positiv verändert. Auch im Gefängnis gibt es eine Reihe von therapeutischen Angeboten. Hier sollte Einsamkeit thematisiert und besprochen werden.
Auch wenn vor allem Maßnahmen zur Änderung negativer Kognitionen wirksam sind, kann die Verbesserung der sozialen Netzwerke eine effektive Methode sein, um das Risiko, unter Einsamkeit zu leiden, zu reduzieren. Im Gefängnis könnte dies z.B. durch Peer-Gruppen unterstützt werden. Durch den regelmäßigen Kontakt zu Mitgefangenen kann den Gefangenen geholfen werden, die keine sozialen Kontakte nach Außen haben oder es vorziehen keinen Kontakt mit diesen zu halten.[40] In Deutschland gibt es zudem die Möglichkeit einer Vollzugshelferschaft: Ehrenamtliche Vollzugshelfer*innen besuchen Gefangene, begleiten diese bei Ausgängen und stehen als Gesprächspartner*innen zur Verfügung.

Fazit

Einsamkeit ist ansteckend und gesundheitsgefährdend. Auch in Gefängnissen breitet sie sich aus und hat viele negative Folgen für das Wohlergehen der Gefangenen.
Gefangene befinden sich durch die Isolation von ihren Angehörigen am Rande sozialer Netzwerke und es hat sich mehrfach gezeigt, dass es zu Kontaktabbrüchen kommt.[41] Die Trennung von Angehörigen stellt eine der schwerwiegendsten Belastungen dar, die mit der Unterbringung im Gefängnis einhergehen. Dies wird von manchen Gefangenen als so schmerzhaft empfunden, dass sie sich völlig von ihren sozialen Kontakten abwenden und sich zunehmend selbst isolieren.[42] Einsamkeit muss auch im Gefängnis flächendeckend thematisiert werden. Es ist wichtig, dass Maßnahmen ergriffen werden, um Einsamkeit unter Gefangenen zu verringern. Interventionen gegen Einsamkeit haben das Potential, depressive Gefühle und Hoffnungslosigkeit zu reduzieren und spielen somit letztlich auch eine Rolle bei der Suizidprävention.[43] Die negativen Folgen von Einsamkeit - sowohl für die physische als auch die psychische Gesundheit - sind auch im Hinblick auf die Resozialisierung schwerwiegend. Im Idealfall werden gesunde, sozialisierte Menschen entlassen, die dann ein verantwortungsvolles und straffreies Leben führen können.
Nach der Entlassung spielt ein sozialer Empfangsraum eine wichtige Rolle. Wer tragfähige soziale Beziehungen hat, wird mit geringerer Wahrscheinlichkeit rückfällig.[44] Auch aus diesem Grund liegt es im Interesse Aller, Einsamkeit im Gefängnis zu vermeiden und die Aufrechterhaltung von Beziehungen und Kontakten zu fördern.

Quellen

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